TURMMAUER - SAGE
An der Mariazellerstraße liegt der freundliche Ahornhof mit dem Muttergottesbild ob der Haustüre. Seine Besitzer waren von jeher Bauersleute. Die lange Woche hindurch rangen Herr und Knecht dem dürftigen Boden das bescheidene Brot ab und kam der Samstag, so wurde die schwere Arbeit mit frommen Dankgebeten beendet. Vor dem Herrgott in der Stubenecke stand um den Tisch der Hausvater mit dem Gesinde und sprach den Rosenkranz. In schöner Jahreszeit gingen die Bauern des Kehrtales wohl auch hinaus in die Felder, um bei einem Bildstocke die Abend- und Sonntagsandacht zu verrichten. Eines Tages kehrte im Ahornhofe ein frischer Bursche zu, mit grün ausgeschlagener Lodenjoppe und kecker Hahnenfeder auf dem staubbedeckten Hute. In einem Bündel trug er seine Siebensachen, etwas Wäsche und Kleider und eine eigenartig geschnitzte Klarinette. Und weil er um Arbeit bat und es just viel zu schaffen gab, so nahm der Ahornbauer den Spielmann als Knecht in sein Haus. Er griff tüchtig zu, der neue Knecht. Wenn aber der Abend kam und um das Aveläuten Bauer und Dienstleute zum englischen Gruss die Knie beugten, da stahl sich der Jungknecht aus dem Hause und erklomm den Kogel zwischen den Wasserfällen. Dort suchte er seine Schalmei hervor und hub an zu spielen. So hatte noch kein Spielmann geblasen. In weichen Schmelze quollen die Töne hervor, bald aufjauchzend vor trunkener Freude, bald leise klagend wie der bittere Schmerz. Gar seltsam waren die Melodien. Flötend wie der Sang der Amsel schwebten die ergreifenden Weisen durch Erdrauch und Dämmerung und verstärkten sich im Widerhalle zu berückenden Akkorden. Aus dem Schweigen des Waldes, aus den fernsten Schluchten der Felsen, aus dem Ätherkreise des Göllers kehrten sie wieder. Sie klangen durch das ganze Kehrtal und drangen an das Ohr der frommen Beter. Träumend lauschten diese der wunderbaren Musik, die Lippen zauderten und die Gebete verstummten. So geschah es jeden Abend und Vesperandacht und Rosenkranz blieben ungesprochen.
Eines Tages - es war am Vorabend des Fronleichnamstages - weilte der Spielmann wieder auf dem Hügel bei den Wasserfällen. Gebetglocke und Freudenböller waren verhallt, die schwarzen Schatten der Nacht senkten sich über Talfrieden und Waldesdunkel. Schon hatte der Bursche sein Spiel beendet, da erglänzte vor seinen Augen fahler Lichtschein und einer Felsenspalte entschwebte eine hohe Frauengestalt. Weisse, langwallende Kleider umflossen den schlanken Leib, ein dichter Schleier schmiegte sich über Haupt und Schultern. Und die Bergfee trat vor den Jüngling und sprach mit drohend erhobenem Finger: "Wehe, Spielmann, dir! Mit deinen Weisen betörst du die Herzen der Frommen. Lass ab von deinem frevlen Spiele, sonst wird dich gerechte Strafe ereilen!" Sprachs und verschwand und tiefes Dunkel lag um den Gewarnten. Zitternd an allen Gliedern, suchte er sein Nachtlager auf.
Am anderen Morgen hatte der Bursche Schreckgespenst und Angst verschlafen. Im Markte St. Aegyd beging man das Fronleichnamsfest. Der Pfarrherr flehte den Segen des Himmels herab über seine Pfarrkinder, die Häuser des Ortes, die Früchte der Erde und über den Landesvater. Die ganze Gemeinde war zugegen, nur der Spielmann aus dem Ahornhofe nicht. Der war hinaufgestiegen auf sein Plätzchen und blies lustig auf seinem Instrument. Aber siehe da! Während er spielte, wuchsen aus dem Boden Felsen, stiegen einem Turme gleich immer höher und höher empor und entführten ihn mit in die Lüfte. Entsetzt hielt der Spielmann inne und suchte nach dem gewohnten Heimweg. Doch da war kein Abstieg zu finden. Überall gähnte der furchtbare Abgrund, nirgends war ein Pfad, nirgends ein Steig.
Inzwischen waren die Kirchenleute nach Hause gekommen. Sie hörten den Hilferuf des Verzweifelten und versuchten mit Leitern und Stricken Rettung zu bringen; allein vergebens. So war er dem Hungertode preisgegeben. Tage und Nächte verstrichen und die letzte Stunde kam immer näher. Noch sollte er die Tröstungen der Religion empfangen. Es erschien die Geistlichkeit mit dem Allerheiligsten Sakramente und gab ihm und dem versammelten Volke den Segen. Und als der Spielmann an den Rand des Felsens trat, krachte plötzlich von unbekannter Hand ein donnernder Schuss und zu Tode getroffen stürzte der wahnwitzige Jüngling in den grässlichen Abgrund.